Verträumte Fjorde, faszinierende Lichterspiele, schier unendliche Weite und das berühmte Nordkap machen den Reiz von Europas arktischem Norden aus. Und Eis.
Während meiner Winterrundreise am Polarkreis begegnet mir gefrorenes Wasser in einer Vielfalt, die ich nicht für möglich gehalten hätte: als ausgefallenes Baumaterial, als treibendes Bade-Accessoire, als beinahe hypnotisches Unterhaltungsprogramm. Lediglich die wohltuende Stille in der Region, die einzig meine vierbeinigen Freunde nicht zu schätzen scheinen, bleibt mir noch stärker in Erinnerung. Im Gegensatz zum Eis überdauert sie alle Jahreszeiten und bezaubert Reisende auch im Sommer, wenn sich Lappland in ein grünes Naturparadies verwandelt.
Ich kann mich noch an den skeptischen Gesichtsausdruck meiner Freunde erinnern, als ich ihnen meine Urlaubspläne für den Winter verraten habe. Ich wollte einmal ganz bewusst Stille geniessen. Ob ich das nicht auch im Keller könne, wurde ich gefragt. Natürlich ein scherzhafter Einwand, doch nun, da ich hoch oben am nördlichsten Punkt Europas gestanden habe, die Hände tief in meiner dicken Jacke vergraben, die Mütze weit ins Gesicht und den Schal bis unter die Nase gezogen, kann ich aus voller Überzeugung sagen: Nein, etwas Vergleichbares habe ich zuhause noch nie erlebt. Nicht die völlige Abwesenheit von Geräuschen macht die unvergleichliche Stille hier aus, sondern das Gefühl von Ruhe und Gelassenheit, das mir während meiner Reise durch den arktischen Norden Europas vertraut geworden ist.
Mein Flugzeug landet in Ivalo auf dem nördlichsten Flughafen Finnlands. Von hier aus starten viele Reisende ihr Lappland-Abenteuer. «Es gibt Routen nach Norden und Süden, die aber manchmal nicht ganz einfach zu finden sind», erzählt mir Rauno Posio von Visit Arctic Europe (siehe Infobox S. 21). «Das wird sich aber demnächst deutlich verbessern.» Da es noch nicht so weit ist, bin ich erst mal froh, mich auf die Angaben eines Ortskundigen verlassen zu können.
«Nacht-Skifahren» den ganzen Tag
Ich wende mich nach Süden und erreiche Levi. Hier befindet sich Finnlands grösstes Skigebiet mit Schneeschuh-Pfaden, Loipen und Routen für Schneemobile. Als passionierter Snowboarder stürze ich mich aber natürlich auf die von Flutlichtern beleuchteten Pisten. Die Weltcup-Strecke mal ausgenommen ziehen sich eher breite Genussabfahrten über die Hänge. Das passt mir ganz gut, denn wie oft halte ich an, um einfach nur den Himmel zu betrachten? Die Sonne geht im Winter nie richtig auf und verwandelt den Horizont gerade während der blauen Stunde in ein flammendes Farbenmeer auf tiefblauem Hintergrund. Während ich innehalte, nehme ich einen tiefen Atemzug der kühlen Luft, die als die reinste Europas gilt.
Rovaniemi, wo der Weihnachtsmann höchstpersönlich sein Büro hat, ist die nächste Zwischenstation. Im Sommer würde ich von dort den Weg nach Syöte einschlagen. Im Syöte-Nationalpark schlängelt sich nicht nur eine riesige Auswahl markierter Trails für Mountainbiker durch die Nadelbäume des Taiga-Walds, sondern auch der Pärjänjoki-Fluss, auf dem man bei einer Kanusafari an malerische Plätze inmitten der unberührten Natur gelangt. Zwar führt mich mein nächstes Vorhaben auch aufs Wasser, doch obwohl ich mich für einen eher sportlichen Typ halte, würde ich mit dem Kanu jetzt im Winter wohl nicht weit kommen.
Badeanzug mal anders
In Kemi habe ich die einmalige Gelegenheit, mit einem Eisbrecher zu fahren! Motorschlitten bringen uns vom Stadtzentrum über das zugefrorene Bottnische Meer, das die grösste Eisfläche Europas bildet, direkt zu dem imposanten Schiff. Dann setzt sich die «Sampo» in Bewegung. Mit stoischer Ruhe bahnt sich das schwarz-weisse Kraftpaket seinen Weg voran. Dicke Risse rasen über das widerspenstige Eis vor seinem Bug, bis es mit einem scharfen Knacken zersplittert. Ähnlich wie beim Blick in ein loderndes Feuer fällt es schwer, die Augen von diesem Schauspiel loszureissen.
«Bereit für ein kleines Bad?», fragt ein Crew-Mitglied, als die «Sampo» eine Pause einlegt, und deutet nach unten. Kein schräger Nordmann-Humor, wie ich schnell feststelle, sondern ein durchaus ernst gemeinter Vorschlag, den einige Passagiere mutig annehmen. Nach kurzem Zögern schlüpfe auch ich in meinen wasserdichten Spezialanzug und lasse mich zwischen den Eisschollen treiben, die in der Fahrrinne des Schiffes schaukeln.
Von Kemi aus steuere ich Jukkasjärvi an, wo mich ein weiteres Eis-Highlight erwartet, diesmal allerdings von Menschenhand gefertigt. Jedes Jahr beginnt Ende Oktober derBau des dortigen Eishotels. Licht in unterschiedlichen Farben schimmert durch die beinahe durchsichtige Inneneinrichtung, und die filigran gefertigten Skulpturen verleihen dem ohnehin fantastisch anmutenden Ort eine märchenhafte Note. Nach einem Glas Wodka an der Eisbar, serviert in einem Eisbecher, ziehe ich mich in mein etwa minus fünf Grad Celsius kaltes Schlafgemach zurück. Auf meinem Nachtlager schlinge ich die Arme trotz Matratze, Rentierfellen und Schlafsack eng um meinen Körper, während mein Atem in kleinen Dampfwölkchen nach oben steigt.
Weiter geht es nach Harstad. Ich lasse mir Zeit auf dem Weg dorthin und halte mich nördlich von Saltoluokta, einer versteckten Siedlung in einem abgelegenen Gebiet, in dem es keine Strassen gibt. «Saltoluokta ist ein weiterer Grund, im Sommer unbedingt einmal wiederzukommen», versichert mir Rauno. «Mit einer Fähre überquert man dort den See Langas, von dem aus man eine herrliche Sicht auf die umliegenden Berge hat. Wenn du möchtest, begleitet dich ein Führer auf einer Wanderung zu einem idyllischen Wasserfall in der Nähe. Du solltest dabei unbedingt die Augen offen halten, denn in der Nähe grasen viele Rentiere und du könntest sogar Adler und Elche sehen.»
Lofoten: ein echtes Paradies
In Harstad angekommen gehe ich an Bord eines Hurtigruten-Schiffes. Das Schiff hat erst kurz zuvor die Lofotveggen passiert, die als Lofotenwand bekannte Gebirgskette aus Granit und Vulkangestein, die mit ihren gezackten Gipfeln steil aus dem Wasser des Vestfjord aufragt. «Im Moment sind die Lofoten schon atemberaubend schön, aber in den warmen Monaten wird die Region zu einem echten Paradies», schwärmt Rauno. «Dann sind die Berge bis oben hin grün bewachsen und im seichten Wasser kann man von Insel zu Insel paddeln. Am Ufer liegen viele kleine Fischerdörfer, denen du unbedingt einen Besuch abstatten solltest.» Sogar ein Wikinger-Festival in einem rekonstruierten Langhaus findet auf den Lofoten statt.
Jetzt aber schlägt das Hurtigruten Schiff den entgegengesetzte Kurs entlang der norwegischen Küste ein. Auf seiner Route liegt Tromsø, das Tor zur Arktis. Der Aufenthalt in der grössten Stadt Nordnorwegens reicht aus, damit ich mir einen Traum erfüllen kann: die Fahrt mit einem Hundeschlitten.
Der Ausgangspunkt ist der vielleicht lauteste Abschnitt meiner Reise, denn die rund 300 Huskys haben sich über ihre Hütten hinweg anscheinend jede Menge zu erzählen.
Körperbehaarung versus Daunenjacke
Bei einer standesgemässen Begrüssung mit Nasenstubser (die Hunde) und Ohrenkraulen (ich) bemerke ich, wie unglaublich dicht das relativ kurze Fell der Alaskan Huskys ist. Vermutlich haben sie es wärmer als ich in meiner dicken Daunenkleidung. Frischer Schnee knirscht unter den Kufen, als acht der energiegeladenen Tiere den Schlitten in gutem Tempo dahingleiten lassen. Von vorne höre ich das Hecheln der Huskys und in der Dunkelheit sind Tromsøs Lichter aus der Entfernung als gelber Schein auszumachen.
Weiter transportiert uns das Hurtigruten Schiff über Hammerfest nach Honningsvåg auf der Insel Magerøya. Wir nähern uns einer der grössten Attraktionen für Lappland-Reisende. In der Kolonne machen wir uns auf den Weg zum Nordkap, vorne ein Schneepflug, gefolgt von einem Bus mit mir und anderen Hurtigruten-Gästen, dann zwei Autos von privat Reisenden. Vor unserem Fenster zieht die verschneite Hochebene vorbei, vor der sich hin und wieder die bunten Häuser eines kleinen Ortes abheben. Nach 40 Minuten sind wir am Ziel.
Schon von weitem sehe ich die markante Weltkugel, die an der Kante des Schieferplateaus thront. Vom Rand der Klippe aus geht es 300 Meter geradewegs nach unten ins Eismeer. Im Sommer ist das Kap ein wahrer Touristenmagnet, gerade zwischen Mai und Juli, wenn die Sonne den ganzen Tag über sichtbar ist. Bei Schnee und Eis verirren sich täglich nur eine Handvoll Besucher an den nördlichsten Punkt Europas.
Am Ende der Welt
Dass er eigentlich gar nicht der nördlichste Punkt ist, weil er sich auf einer Insel befindet und es selbst auf Magerøya noch ein wenig weiter nach Norden geht – Haarspalterei, an der ich mich nicht beteilige. In der festen Überzeugung, am Ende der Welt sprichwörtlich einmal alles hinter mir gelassen zu haben, lasse ich den Wind feine Eiskristalle über meine Stiefel wirbeln und meinen Blick über die Weite des Ozeans schweifen. Diesen Moment habe ich herbeigesehnt und ich koste ihn so lange wie möglich aus.
Meine Hurtigruten-Tour endet in Kirkenes. Einige der Passagiere verabschieden sich auf eine King Crabs Safari, bei der sie mit Schneemobilen auf einen zugefrorenen Fjord fahren. Durch eine Art Falltür werden dort Käfige aus dem bitterkalten Wasser nach oben geholt, in die sich idealerweise riesige Königskrabben verirrt haben. Ich aber habe noch einen anderen Wunsch für meinen Aufenthalt in Lappland, den ich mir in Inari erfüllen möchte.
Der Inarijärvi-See ist durchzogen von Tausenden Inseln. Eine der bedeutendsten ist Ukonsaari, Ukkos Felsen, der auf einer Seite flach abfällt und sich auf der anderen ein gutes Stück über die Wasseroberfläche erhebt. Hier huldigten die Samen früher ihrer Gottheit Aijeke. Wie viel ihres Geistes noch auf der Insel weilt, weiss ich nicht. Doch als das Lichterphänomen, das so viele Menschen in seinen Bann zieht, weit über mir am sternenklaren Himmel tanzt, kann ich den Glauben der Ureinwohner an eine höhere Macht irgendwie nachvollziehen. Keine Lampe, kein Scheinwerfer stört die absolute Dunkelheit um mich herum, als ich mich zum ersten Mal im Leben von den sagenhaften Nordlichtern verzaubern lasse.
Von Inari ist es nicht weit nach Ivalo, von wo aus ich meinen Rückflug antrete. Bei meiner Rückkehr erhalte ich eine SMS mit der Frage, ob ich die Stille denn gefunden hätte. Ich denke an die eisige Weite des gefrorenen Meeres, an den einzigartigen Ausblick vom Nordkap und an die magischen Nordlichter in der perfekten Schneelandschaft. Dann lächele ich und lege das Smartphone zur Seite. Ein bisschen der Stille trage ich sogar noch in mir.